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Mandantenbriefe
Urteil vom 31. Oktober 2023, 2 BvR 900/22
Mit heute verkündetem Urteil hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass § 362 Nr. 5 Strafprozessordnung (StPO) mit dem Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und dem Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) unvereinbar und nichtig ist. Die angegriffenen, auf § 362 Nr. 5 StPO beruhenden Beschlüsse des Landgerichts Verden und des Oberlandesgerichts Celle werden aufgehoben; die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.
Dem Beschwerdeführer wurde vorgeworfen, im Jahr 1981 eine Schülerin vergewaltigt und getötet zu haben. Das daraufhin gegen ihn geführte Strafverfahren endete 1983 mit einem Freispruch. Im Februar 2022 wurde es wegen neuer Beweismittel aufgrund des am 30. Dezember 2021 in Kraft getretenen § 362 Nr. 5 StPO wiederaufgenommen. Nach dieser Vorschrift darf ein Strafverfahren zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen wiederaufgenommen werden, wenn aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe dafür bestehen, dass der Betroffene nunmehr wegen Mordes oder bestimmter Völkerstraftaten verurteilt wird.
Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer ist verfassungswidrig. Ihre Rechtsgrundlage, § 362 Nr. 5 StPO, verstößt gegen Art. 103 Abs. 3 GG. Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot verbietet dem Gesetzgeber die Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil des Freigesprochenen aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel. Es trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Zudem verletzt die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Freisprüche, die bereits zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechtskräftig waren, das Rückwirkungsverbot.
Die Entscheidung ist im Ergebnis einstimmig, zur Frage der Abwägungsfestigkeit des grundrechtsgleichen Rechts des Art. 103 Abs. 3 GG mit 6 : 2 Stimmen gefallen. Richterin Langenfeld und Richter Müller haben hierzu ein Sondervotum erstellt.
Sachverhalt:
Nach § 362 Nr. 5 StPO, eingeführt im Dezember 2021 durch das „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“, darf ein Strafverfahren gegen einen rechtskräftig Freigesprochenen wiederaufgenommen werden, wenn aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe dafür bestehen, dass der Betroffene nunmehr wegen Mordes oder bestimmter Völkerstraftaten verurteilt wird.
Der Beschwerdeführer wurde mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts Stade vom 13. Mai 1983 vom Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes freigesprochen. Nach Einführung des § 362 Nr. 5 StPO stellte die zuständige Staatsanwaltschaft im Februar 2022 beim Landgericht Verden einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens nach dieser Vorschrift und auf Erlass eines Haftbefehls. Das Landgericht erklärte den Wiederaufnahmeantrag mit Beschluss vom 25. Februar 2022 für zulässig und ordnete Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer an. Die hiergegen gerichtete Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Celle mit Beschluss vom 20. April 2022. Mit seiner unmittelbar gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts und des Landgerichts sowie mittelbar gegen § 362 Nr. 5 StPO gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 Abs. 3 GG sowie aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Auf den Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat der Senat den Vollzug des Haftbefehls des Landgerichts vom 25. Februar 2022 mit Beschluss vom 14. Juli 2022, wiederholt mit Beschluss vom 20. Dezember 2022, unter Auflagen ausgesetzt (vgl. Pressemitteilungen Nr. 62/2022 und Nr. 111/2022). Mit Beschluss vom 16. Juni 2023 wurde die einstweilige Anordnung ohne Auflagen verlängert (vgl. Pressemitteilung Nr. 57/2023).
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.
I. § 362 Nr. 5 StPO verstößt gegen Art. 103 Abs. 3 GG. Dieses grundrechtsgleiche Recht verbietet dem Gesetzgeber die Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil des Grundrechtsträgers aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel. Damit ist § 362 Nr. 5 StPO nicht vereinbar.
1. a) Art. 103 Abs. 3 GG gewährt einem Verurteilten oder Freigesprochenen ein subjektives grundrechtsgleiches Recht, das zunächst unmittelbar an die Strafgerichte und Strafverfolgungsorgane gerichtet ist.
Der Grundsatz, dass niemand wegen derselben Tat mehrmals bestraft werden darf (ne bis in idem), beschreibt das Prinzip des Strafklageverbrauchs, das Strafgerichte und Strafverfolgungsorgane als Verfahrenshindernis von Amts wegen in jedem Stadium des Strafverfahrens zu beachten haben. Soweit dieser Grundsatz eine erneute Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze betrifft, ist er durch Art. 103 Abs. 3 GG zum verfassungsrechtlichen Verbot erhoben worden. Dabei gestaltet Art. 103 Abs. 3 GG das zunächst abstrakte Prinzip des Strafklageverbrauchs als grundrechtsgleiches Recht aus. Er gewährt dem Einzelnen Schutz, den dieser als individuelle Rechtsposition geltend machen kann. Dieser Schutz kommt Verurteilten wie Freigesprochenen gleichermaßen zu und steht bereits der erneuten Strafverfolgung entgegen.
Gegenüber dem Gesetzgeber entfaltet Art. 103 Abs. 3 GG keine andere Wirkung, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft. Das in Art. 103 Abs. 3 GG gegenüber den Strafverfolgungsorganen statuierte Verbot mehrfacher Strafverfolgung wäre praktisch wirkungslos, wenn die einfachgesetzliche Ausgestaltung als Wiederaufnahmeverfahren eine erneute Strafverfolgung und gegebenenfalls Verurteilung ermöglichen könnte.
b) Art. 103 Abs. 3 GG gewährt dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit. Indem Art. 103 Abs. 3 GG bestimmt, dass wegen derselben Tat keine erneute Bestrafung erfolgen darf, hat das Grundgesetz selbst für den Anwendungsbereich dieser Bestimmung, mithin für strafgerichtliche Urteile, bereits entschieden, dass dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit zukommt.
Diese Vorrangentscheidung ist absolut. Sie steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen. Zwar folgt dies noch nicht zwingend aus dem Wortlaut oder der Entstehungsgeschichte. Bei systematischer Betrachtung erscheint Art. 103 Abs. 3 GG jedoch abwägungsfest.
Art. 103 Abs. 3 GG stellt eine besondere Ausprägung des im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Vertrauensschutzes dar, die ausschließlich für strafrechtliche Verfahren gilt. Als Sonderregelung mit eigenständigem Gehalt geht Art. 103 Abs. 3 GG in seinem Schutzgehalt über die allgemeinen Prinzipien hinaus, die ihrerseits bereits das Vertrauen in eine rechtskräftige Entscheidung schützen und eine übermäßige Beeinträchtigung der Interessen des Einzelnen verhindern. Dieser weiterreichende Vertrauensschutz beruht darauf, dass ihm unbedingter Vorrang gegenüber den grundsätzlich berechtigten Korrekturinteressen zukommt, die der Gesetzgeber ansonsten berücksichtigen könnte.
Art. 103 Abs. 3 GG korrespondiert in Bezug auf diese Unbedingtheit mit Art. 103 Abs. 2 GG, wonach es dem Strafgesetzgeber ausnahmslos verboten ist, rückwirkende Strafgesetze zu erlassen. Ein gleichlaufendes Verständnis des Art. 103 Abs. 3 GG als abwägungsfestes Recht komplementiert diesen materiell-rechtlichen Schutz des Einzelnen im Bereich des Strafrechts auf der verfahrensrechtlichen Ebene.
Art. 103 Abs. 2 und 3 GG stehen den Freiheitsrechten nahe, die nicht nur innerhalb eines Strafverfahrens zu beachten sind, sondern den Grundrechtsträger bereits vor einem Strafverfahren schützen, ohne dass es zur Verwirklichung dieses Schutzes noch einer gesetzlichen Umsetzung bedürfte. Darin unterscheiden sich Art. 103 Abs. 2 und 3 GG von den Rechten, die – wie beispielsweise der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) – auf die Gewährleistung von Rechtsschutz gerichtet sind. Der für alle Verfahrensarten geltende Anspruch auf rechtliches Gehör bedarf einer verfahrensrechtlichen Ausgestaltung durch den Gesetzgeber.
Auch Sinn und Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG sprechen dafür, dass die Norm absolute Geltung beansprucht. Der Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG als Individualrecht besteht zunächst darin, den staatlichen Strafanspruch um der Rechtssicherheit des Einzelnen willen zu begrenzen. Der Einzelne soll darauf vertrauen dürfen, dass er nach einem Urteil wegen des abgeurteilten Sachverhalts nicht nochmals belangt werden kann. Wäre dem Gesetzgeber vorbehalten, die Abwägung zwischen Rechtssicherheit und staatlichem Strafanspruch anders zu treffen, könnte Art. 103 Abs. 3 GG selbst das Vertrauen des Angeklagten in den Bestand des in seiner Sache ergangenen Strafurteils und damit Rechtssicherheit für den Einzelnen nicht begründen.
Daneben dient die Rechtskraft einer Entscheidung auch dem Rechtsfrieden. Es besteht ein vom Einzelnen unabhängiges Bedürfnis der Gesellschaft an einer endgültigen Feststellung der Rechtslage. Daher hat sich die moderne rechtsstaatliche Ordnung gegen die Erreichung des Ideals absoluter Wahrheit und für die in einem rechtsförmigen Verfahren festzustellende, stets nur relative Wahrheit entschieden. Auch das Strafrecht gebietet keine Erforschung der Wahrheit „um jeden Preis“.
Damit stellt Art. 103 Abs. 3 GG auch gegenüber dem das Wiederaufnahmerecht gestaltenden Gesetzgeber ein absolutes und abwägungsfestes Verbot dar.
c) Als abwägungsfestes Verbot ist das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG in Abgrenzung zu den allgemeinen rechtsstaatlichen Garantien eng auszulegen. Art. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, wenn wegen derselben Tat bereits durch ein deutsches Gericht ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist.
Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel.
Die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens kann etwa darauf gerichtet sein, ein mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarendes Urteil aufzuheben, ohne dass eine Änderung des materiellen Ergebnisses im Vordergrund steht. Ist dies der Fall, ist Art. 103 Abs. 3 GG nicht berührt. Das betrifft insbesondere die Wiederaufnahme von Strafverfahren gemäß § 362 Nr. 1–4 StPO. Die Möglichkeit, ein unter schwerwiegenden Mängeln gefundenes Urteil, das die Anforderungen an ein justizförmiges, rechtsgeleitetes Verfahren verfehlt, aufzuheben und das Verfahren zu wiederholen, sichert den Geltungsanspruch des Urteils und damit die rechtsstaatliche Autorität des Strafverfahrens ab. Die Aufhebung eines Freispruchs nach einem glaubwürdigen Geständnis verfolgt den Zweck, ein Verhalten zu verhindern, das die Autorität des rechtsstaatlichen Strafverfahrens infrage stellen würde.
Demgegenüber verbietet Art. 103 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel, die vorrangig auf eine inhaltlich „richtigere“ Entscheidung zielt. Die Korrektur eines Strafurteils mit dem Ziel, eine inhaltlich „richtigere“ und damit materiell gerechtere Entscheidung herbeizuführen, lässt sich mit der von Art. 103 Abs. 3 GG getroffenen unbedingten Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit nicht vereinbaren.
Die Rechtssicherheit, die durch ein justizförmig zustande gekommenes Urteil geschaffen wurde, erstreckt sich darauf, dass sie nicht durch das Auftauchen neuer Tatsachen oder Beweismittel infrage gestellt wird. Der Rechtsstaat nimmt die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Entscheidung vielmehr um der Rechtssicherheit willen in Kauf. Neue Tatsachen oder Beweismittel ziehen die Rechtsförmigkeit und Rechtsstaatlichkeit des vorausgegangenen Strafverfahrens nicht in Zweifel und begründen daher auch keinen schwerwiegenden Mangel der ergangenen Entscheidung. Deshalb zielt die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel nicht darauf, den Geltungsanspruch der ergangenen Entscheidung zu stärken, sondern stellt diese, im Gegenteil, zur Disposition.
Art. 103 Abs. 3 GG hat auch nicht aufgrund einer gewandelten Verfassungswirklichkeit eine veränderte Bedeutung erhalten, in deren Folge dem Gesetzgeber die Gestaltung einer – womöglich eng umgrenzten – Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel offen stünde. Zwar sind das Straf- und das Strafprozessrecht fortwährend Änderungen unterworfen. Insbesondere die Zulassung der Verständigung hat dabei Einfluss auf die Wahrheitsfindungsfunktion des Strafprozesses erlangt. An den verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Strafverfahren vermögen diese oder auch andere Entwicklungen jedoch nichts zu ändern.
Erst recht nehmen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Gesetzgeber nicht deshalb ab, weil eine gefestigte demokratische und rechtsstaatliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland dazu geführt hätte, dass eine Abkehr oder Aufweichung der verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht mehr zu befürchten sind.
Eine Ausweitung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums zur Regelung der Wiederaufnahme von Strafverfahren kann auch nicht auf die Belange von Opfern und deren Angehörigen gestützt werden. Zwar kann aus der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch gegen den Staat auf effektive Strafverfolgung folgen. Der Anspruch auf effektive Strafverfolgung verbürgt jedoch kein bestimmtes Ergebnis, sondern verpflichtet die Strafverfolgungsorgane grundsätzlich nur zu einem (effektiven) Tätigwerden. Die Gründe für eine Wiederaufnahme zulasten des Angeklagten aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel wurzeln jedoch nicht in gravierenden Mängeln der Strafverfolgung an sich und insbesondere nicht in der Nichtverfolgung einer Straftat. Ein Freispruch steht vielmehr am Ende eines Strafverfahrens, das gerade nicht eingestellt, sondern rechtsförmig durchgeführt worden ist.
Insbesondere der Verweis auf die fortlaufende Verbesserung der Ermittlungsmethoden stellt die Rechtsstaatlichkeit früherer Strafverfolgung nicht infrage. Wird die Aufklärung ungelöster Fälle mithilfe früher nicht verfügbarer Erkenntnismittel möglich, bestätigt dies vielmehr die rechtsstaatliche Unbedenklichkeit der früheren, wenn auch in der Sache unvollständigen Ergebnisse. Technischen Fortschritt unterstellt, kann eine spätere und daher mit moderneren Methoden durchgeführte Aufklärung die Chance besserer Erkenntnisse in sich tragen. Sie kann aber auch durch den Umstand belastet sein, dass nicht alle für das zuerst geführte Verfahren relevanten Beweismittel auch im zweiten Verfahren noch zur Verfügung stehen oder ebenso ertragreich sind, wie sie es im ersten Verfahren waren. Ein Strafprozess, der wegen des grundsätzlich stets möglichen Auftauchens neuer Tatsachen oder Beweismittel faktisch nie endete, würde für die Opfer beziehungsweise für ihre Hinterbliebenen eine erhebliche seelische Belastung darstellen, die das Bedürfnis an einer inhaltlich richtigen Aufklärung und Urteilsfindung immer weiter zurücktreten ließe, je mehr Zeit nach der Tat verstrichen wäre.
2. Die hier mittelbar angegriffene Norm des § 362 Nr. 5 StPO verstößt danach gegen das Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG.
a) Die Regelung des § 362 Nr. 5 StPO betrifft das Strafrecht. Nicht nur der Tatbestand des Mordes nach § 211 StGB, sondern auch die darüber hinaus von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch sind allgemeine Strafgesetze im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG.
b) § 362 Nr. 5 StPO stellt ferner auf ein rechtskräftiges Strafurteil eines deutschen Gerichts ab, worunter auch der Freispruch fällt. Die Norm ermöglicht mit der Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen eine erneute Strafverfolgung wegen derselben – bereits abgeurteilten – Tat.
c) Grund für die Wiederaufnahme gemäß § 362 Nr. 5 StPO sind neue Tatsachen oder Beweismittel. Zweck dieser Wiederaufnahme ist in erster Linie die inhaltliche Korrektur des Freispruchs. Bereits der Untertitel des Einführungsgesetzes – „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ – verweist auf diesen Zweck der Einführung des neuen Wiederaufnahmegrundes. Auch in der Gesetzesbegründung wird auf keinen anderen Zweck als die Korrektur des „unbefriedigenden“ beziehungsweise „schlechterdings unerträglichen“ Ergebnisses verwiesen, das bestünde, wenn eine Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel weiterhin ausgeschlossen wäre.
d) § 362 Nr.5 StPO unterläuft somit die in Art. 103 Abs. 3 GG getroffene – abwägungsfeste – Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit.
II. Zudem verletzt die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Verfahren, die bereits vor Inkrafttreten dieser Bestimmung durch rechtskräftigen Freispruch abgeschlossen waren, das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG).
1. Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet in ständiger Rechtsprechung zwischen Gesetzen mit „echter“ und solchen mit „unechter“ Rückwirkung. Eine Rechtsnorm entfaltet „echte“ Rückwirkung in Form einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung für vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll. Demgegenüber ist von einer „unechten“ Rückwirkung in Form einer tatbestandlichen Rückanknüpfung auszugehen, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition entwertet. Eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung) ist grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig.
2. Soweit § 362 Nr. 5 StPO die Wiederaufnahme für Verfahren ermöglicht, die bereits zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechtskräftig abgeschlossen waren, liegt darin eine „echte“ Rückwirkung, die auch nicht ausnahmsweise zulässig ist.
a) Die Regelung des § 362 Nr. 5 StPO erfasst auch Freisprüche, die bereits vor ihrem Inkrafttreten am 30. Dezember 2021 in Rechtskraft erwachsen sind. Eine andere Auslegung der ohne Übergangsbestimmungen erlassenen Norm kommt angesichts des deutlich erkennbaren Willens des Gesetzgebers nicht in Betracht. Gerade den streitgegenständlichen Fall und die vom Vater des Opfers mit initiierte Petition an den Deutschen Bundestag nimmt die Gesetzesbegründung ausdrücklich in Bezug.
b) Die Erstreckung auf Freisprüche, die bereits vor Inkrafttreten des § 362 Nr. 5 StPO rechtskräftig geworden sind, stellt eine „echte“ Rückwirkung im Sinne einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen dar. Im Strafverfahren enthält ein Freispruch den abschließenden Aussagegehalt, dass sich der Tatverdacht, der dem Strafverfahren zugrunde lag, nicht bestätigt hat. Der geregelte Lebenssachverhalt, an den eine gesetzliche Neuregelung der Wiederaufnahme Rechtsfolgen knüpft, ist das Verfahren, nicht der zugrundeliegende, den Verfahrensgegenstand prägende tatsächliche Sachverhalt. Erfolgt die Wiederaufnahme aufgrund einer Norm, die erst nachträglich in Kraft tritt, ändert sie die Rechtsfolgen eines Freispruchs. Den zuvor bestehenden Vorbehalten, die in den bisherigen Wiederaufnahmegründen zum Ausdruck kommen, fügt die Neuregelung einen weiteren Vorbehalt hinzu.
c) Die mit der Neuregelung des § 362 Nr. 5 StPO einhergehende „echte“ Rückwirkung ist verfassungsrechtlich nicht ausnahmsweise zulässig. Die Voraussetzungen der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Ausnahmen liegen nicht vor. Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der bisherigen Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an, und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang.
Die Unverjährbarkeit der von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Delikte gebietet keine andere Bewertung. Gerade für unverjährbare Delikte kann erst ein Freispruch die weitere Strafverfolgung ausschließen. Er trifft, anders als das Institut der Verjährung, eine ausdrückliche staatliche Entscheidung darüber, dass die Voraussetzungen für die Bestrafung eines bestimmten Verhaltens nicht erfüllt sind, und knüpft hieran den Ausschluss erneuter Strafverfolgung. Daher entfaltet ein Freispruch eine noch stärkere Zäsurwirkung als der Eintritt der Verfolgungsverjährung.
Unerheblich ist, ob der Betroffene zum Zeitpunkt seines Freispruchs wusste, dass das Urteil materiell-rechtlich falsch war. In Fortsetzung des Grundsatzes in dubio pro reo schützen der Grundsatz ne bis in idem und Art. 103 Abs. 3 GG den Freigesprochenen gerade unabhängig von dessen materiell-rechtlicher Schuld.
Die vom Gesetzgeber mit der Regelung des § 362 Nr. 5 StPO insgesamt beabsichtigte Verwirklichung des Prinzips der materialen Gerechtigkeit verdrängt die zentrale Bedeutung der Rechtssicherheit für den Rechtsstaat nicht. Der Freispruch eines möglicherweise Schuldigen und der Fortbestand dieses Freispruchs trotz abnehmender Zweifel an der Schuld des Freigesprochenen sind unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls nicht „unerträglich“, sondern vielmehr Folgen einer rechtsstaatlichen Strafrechtsordnung, in der der Zweifelsgrundsatz eine zentrale Rolle spielt.
III. Gemäß § 95 Abs. 3 BVerfGG ist § 362 Nr. 5 StPO für nichtig zu erklären. Die auf dieser Vorschrift beruhenden Beschlüsse des Oberlandesgerichts und des Landgerichts sind nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, und die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen.
Abweichende Meinung des Richters Müller und der Richterin Langenfeld:
Der Auffassung der Senatsmehrheit, dass Art. 103 Abs. 3 GG einer Ergänzung der bestehenden Wiederaufnahmegründe zuungunsten der betroffenen Person prinzipiell entgegensteht, können wir nicht folgen.
1. Der Gewährleistungsinhalt des Art. 103 Abs. 3 GG ist für eine Abwägung mit entgegenstehenden Verfassungsgütern und in der Folge für eine Ergänzung der bestehenden Wiederaufnahmegründe grundsätzlich offen.
a) Wäre Art. 103 Abs. 3 GG uneingeschränkt abwägungsfest, wäre für jegliche Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen von vornherein kein Raum. Auch die Senatsmehrheit sieht die bestehenden Möglichkeiten einer Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen gemäß § 362 Nr. 1-4 StPO als verfassungsrechtlich unbedenklich an.
b) Nach unserer Überzeugung steht es dem Gesetzgeber offen, unter Beachtung der sich aus Art. 103 Abs. 3 GG ergebenden engen verfassungsrechtlichen Grenzen, die bestehenden Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Betroffenen zu ergänzen. Es handelt sich bei der Vorschrift um ein vorbehaltlos gewährleistetes grundrechtsgleiches Recht. Als solches unterliegt es verfassungsimmanenten Schranken.
c) Der Rückgriff der Senatsmehrheit auf die Systematik des Art. 103 Abs. 3 GG zur Begründung der Abwägungsfestigkeit der Bestimmung überzeugt nicht.
Art. 103 Abs. 3 GG stellt, wie der Senat zutreffend festhält, eine besondere Ausprägung des im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Vertrauensschutzes dar, die ausschließlich für das strafrechtliche Verfahren gilt. Die Behauptung, diesem besonderen Vertrauensschutz komme unbedingter Vorrang gegenüber etwaigen Korrekturinteressen des Gesetzgebers zu, setzt indes voraus, dass der Verfassungsgeber eine solche absolute Vorrang-
entscheidung der Rechtssicherheit vor dem ebenfalls verfassungsrechtlich verbürgten Prinzip der materialen Gerechtigkeit tatsächlich getroffen hat. Dies ist nicht der Fall. Vielmehr hat der Verfassungsgeber die im einfachen Recht vorgefundenen Wiederaufnahmetatbestände unangetastet gelassen. Es ist nicht ersichtlich, aus welchem Grund der Gesetzgeber angesichts dessen daran gehindert sein sollte, weitere Ausnahmen vom Grundsatz ne bis in idem vorzusehen, wenn sie den allgemeinen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Zulässigkeit solcher Beschränkungen genügen und sich als zulässige Konkretisierungen immanenter Schranken des Art. 103 Abs. 3 GG darstellen. Die von der Senatsmehrheit angeführten Unterschiede zwischen den bestehenden Wiederaufnahmegründen in § 362 Nr. 1-4 StPO und der streitgegenständlichen Norm des § 362 Nr. 5 StPO sind nicht geeignet, eine derart kategoriale Differenzierung in Hinblick auf die Abwägungsfestigkeit zu tragen.
Aus unserer Sicht bestätigen die bestehenden Regelungen, dass eine Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen strafgerichtlichen Verfahrens zuungunsten des Betroffenen in Betracht kommen kann, wenn das Gewicht der Wiederaufnahmegründe und das dahinterstehende Anliegen einer materiell schuldangemessenen Sanktionierung als Ausdruck einer effektiven Strafrechtspflege den grundsätzlichen Bestand rechtskräftiger Entscheidungen ausnahmsweise überwiegt. Für die in § 362 Nr. 1-4 StPO normierten Tatbestände ist der Verfassungsgeber von einem solchen Überwiegen unstreitig ausgegangen. Dies dokumentiert, dass es verfassungsrechtlich unbedenkliche Fälle gibt, in denen der in Art. 103 Abs. 3 GG normierte Vorrang der Rechtssicherheit zurücktritt.
Die überkommenen Wiederaufnahmegründe des § 362 Nr. 1-3 StPO sehen eine Wiederaufnahme bei schweren Verfahrensmängeln vor. Sie ermöglichen eine Korrektur einer qualifiziert defizitären Beweisführung. Im Fall des § 362 Nr. 5 StPO geht es ebenfalls um die Korrektur eines Freispruches, der aufgrund von Beweismitteldefiziten in der ursprünglichen Hauptverhandlung, die allerdings erst im Nachhinein offenbar geworden sind, zustande gekommen ist.
Dies gilt erst recht mit Blick auf § 362 Nr. 4 StPO. Im Fall des nachträglichen glaubwürdigen Geständnisses (§ 362 Nr. 4 StPO) ist die Beweislage zulasten des Freigesprochenen verändert mit der Folge, dass eine Wiederaufnahme möglich wird. Nicht anders verhält es sich bei § 362 Nr. 5 StPO, der voraussetzt, dass neue Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe für eine Verurteilung bilden.
Abgesehen davon, dass mit der Auffassung der Senatsmehrheit Zufälligkeiten einer vorkonstitutionellen Rechtslage verfassungsrechtlich versteinert würden, sind mit dieser Sicht schwerlich auflösbare Wertungswidersprüche verbunden. Insbesondere ist es kaum zu erklären, aus welchem Grunde ein Freigesprochener, der in einem Wirtschaftsstrafverfahren von einer gefälschten Urkunde profitiert hatte (die er noch nicht einmal selbst gefälscht haben muss), sich einer erneuten Anklage stellen muss, dagegen aber nicht jemand, der in einem Verfahren wegen Mordes durch ein molekulargenetisches Gutachten der Täterschaft überführt wird. Ebenso dürfte kaum vermittelbar sein, warum in einem Fall, in dem nach einem Freispruch ein Täter, der Kriegsverbrechen gesteht, erneut angeklagt werden kann, während sein ebenfalls freigesprochener Komplize, der nicht geständig ist, trotz des Auftauchens neuer erdrückender Beweise straflos bleibt.
Auch Sinn und Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG erfordern – anders, als die Senatsmehrheit meint – nicht seine Abwägungsfestigkeit. Der Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG als Individualrecht besteht darin, den staatlichen Strafanspruch um der Rechtssicherheit des Einzelnen willen zu begrenzen. Daneben dient Art. 103 Abs. 3 GG auch der Sicherung des Rechtsfriedens. Diese Grund-
entscheidung wird durch eine Beschränkung des Art. 103 Abs. 3 GG, die im Ausnahmefall dem Strafanspruch des Staates zur Herstellung materialer Gerechtigkeit den Vorrang einräumt, indes nicht aufgehoben. Der Gesetzgeber darf berücksichtigen, dass der Rechtsfrieden auch Schaden erleiden kann, wenn im Falle schwerster Straftaten im Sinne von § 362 Nr. 5 StPO ein Betroffener trotz erdrückender Beweise straflos bleibt. Der Notwendigkeit möglichst lückenloser Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in solchen Fällen hat der Gesetzgeber durch die Anordnung der Unverjährbarkeit dieser Straftaten Rechnung getragen. Es erschließt sich nicht, dass die Berücksichtigung der dem zugrundeliegenden Wertung bei der Frage der Wiederaufnahme von vornherein ausgeschlossen sein soll.
2. Der Strafklageverbrauch nach Art. 103 Abs. 3 GG steht demgemäß einer weiteren Einschränkung durch eine Ergänzung der Wiederaufnahmegründe durch § 362 Nr. 5 StPO nicht grundsätzlich entgegen. Die Gefahr eines „Dammbruchs“ besteht angesichts der Begrenzung auf schwerste, unverjährbare Straftaten und der sonstigen engen tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm nicht. Die Ermöglichung der Wiederaufnahme gemäß § 362 Nr. 5 StPO dient der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches bei wenigen besonders schweren Straftaten. Das dahinterstehende Ziel ist die Stabilisierung und Sicherung des Rechtsfriedens und die Durchsetzung von Normen zum Schutz höchstrangiger subjektiver Rechtsgüter und von fundamentalen völkerrechtlichen Interessen.
3. Ob die konkrete Ausgestaltung der streitgegenständlichen Norm des § 362 Nr. 5 StPO in jeder Hinsicht verhältnismäßig im engeren Sinne und hinreichend bestimmt ist, bedürfte näherer Prüfung.
4. Unabhängig von bestehenden Zweifeln an der Vereinbarkeit der konkreten Ausgestaltung der streitgegenständlichen Norm mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Bestimmtheit liegt ein Verstoß gegen das Verbot der echten Rückwirkung aus Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG vor.
Urteil vom 31. Oktober 2023, 2 BvR 900/22
Mit heute verkündetem Urteil hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass § 362 Nr. 5 Strafprozessordnung (StPO) mit dem Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und dem Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) unvereinbar und nichtig ist. Die angegriffenen, auf § 362 Nr. 5 StPO beruhenden Beschlüsse des Landgerichts Verden und des Oberlandesgerichts Celle werden aufgehoben; die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.
Dem Beschwerdeführer wurde vorgeworfen, im Jahr 1981 eine Schülerin vergewaltigt und getötet zu haben. Das daraufhin gegen ihn geführte Strafverfahren endete 1983 mit einem Freispruch. Im Februar 2022 wurde es wegen neuer Beweismittel aufgrund des am 30. Dezember 2021 in Kraft getretenen § 362 Nr. 5 StPO wiederaufgenommen. Nach dieser Vorschrift darf ein Strafverfahren zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen wiederaufgenommen werden, wenn aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe dafür bestehen, dass der Betroffene nunmehr wegen Mordes oder bestimmter Völkerstraftaten verurteilt wird.
Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer ist verfassungswidrig. Ihre Rechtsgrundlage, § 362 Nr. 5 StPO, verstößt gegen Art. 103 Abs. 3 GG. Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot verbietet dem Gesetzgeber die Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil des Freigesprochenen aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel. Es trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Zudem verletzt die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Freisprüche, die bereits zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechtskräftig waren, das Rückwirkungsverbot.
Die Entscheidung ist im Ergebnis einstimmig, zur Frage der Abwägungsfestigkeit des grundrechtsgleichen Rechts des Art. 103 Abs. 3 GG mit 6 : 2 Stimmen gefallen. Richterin Langenfeld und Richter Müller haben hierzu ein Sondervotum erstellt.
Sachverhalt:
Nach § 362 Nr. 5 StPO, eingeführt im Dezember 2021 durch das „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“, darf ein Strafverfahren gegen einen rechtskräftig Freigesprochenen wiederaufgenommen werden, wenn aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe dafür bestehen, dass der Betroffene nunmehr wegen Mordes oder bestimmter Völkerstraftaten verurteilt wird.
Der Beschwerdeführer wurde mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts Stade vom 13. Mai 1983 vom Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes freigesprochen. Nach Einführung des § 362 Nr. 5 StPO stellte die zuständige Staatsanwaltschaft im Februar 2022 beim Landgericht Verden einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens nach dieser Vorschrift und auf Erlass eines Haftbefehls. Das Landgericht erklärte den Wiederaufnahmeantrag mit Beschluss vom 25. Februar 2022 für zulässig und ordnete Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer an. Die hiergegen gerichtete Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Celle mit Beschluss vom 20. April 2022. Mit seiner unmittelbar gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts und des Landgerichts sowie mittelbar gegen § 362 Nr. 5 StPO gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 Abs. 3 GG sowie aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Auf den Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat der Senat den Vollzug des Haftbefehls des Landgerichts vom 25. Februar 2022 mit Beschluss vom 14. Juli 2022, wiederholt mit Beschluss vom 20. Dezember 2022, unter Auflagen ausgesetzt (vgl. Pressemitteilungen Nr. 62/2022 und Nr. 111/2022). Mit Beschluss vom 16. Juni 2023 wurde die einstweilige Anordnung ohne Auflagen verlängert (vgl. Pressemitteilung Nr. 57/2023).
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.
I. § 362 Nr. 5 StPO verstößt gegen Art. 103 Abs. 3 GG. Dieses grundrechtsgleiche Recht verbietet dem Gesetzgeber die Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil des Grundrechtsträgers aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel. Damit ist § 362 Nr. 5 StPO nicht vereinbar.
1. a) Art. 103 Abs. 3 GG gewährt einem Verurteilten oder Freigesprochenen ein subjektives grundrechtsgleiches Recht, das zunächst unmittelbar an die Strafgerichte und Strafverfolgungsorgane gerichtet ist.
Der Grundsatz, dass niemand wegen derselben Tat mehrmals bestraft werden darf (ne bis in idem), beschreibt das Prinzip des Strafklageverbrauchs, das Strafgerichte und Strafverfolgungsorgane als Verfahrenshindernis von Amts wegen in jedem Stadium des Strafverfahrens zu beachten haben. Soweit dieser Grundsatz eine erneute Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze betrifft, ist er durch Art. 103 Abs. 3 GG zum verfassungsrechtlichen Verbot erhoben worden. Dabei gestaltet Art. 103 Abs. 3 GG das zunächst abstrakte Prinzip des Strafklageverbrauchs als grundrechtsgleiches Recht aus. Er gewährt dem Einzelnen Schutz, den dieser als individuelle Rechtsposition geltend machen kann. Dieser Schutz kommt Verurteilten wie Freigesprochenen gleichermaßen zu und steht bereits der erneuten Strafverfolgung entgegen.
Gegenüber dem Gesetzgeber entfaltet Art. 103 Abs. 3 GG keine andere Wirkung, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft. Das in Art. 103 Abs. 3 GG gegenüber den Strafverfolgungsorganen statuierte Verbot mehrfacher Strafverfolgung wäre praktisch wirkungslos, wenn die einfachgesetzliche Ausgestaltung als Wiederaufnahmeverfahren eine erneute Strafverfolgung und gegebenenfalls Verurteilung ermöglichen könnte.
b) Art. 103 Abs. 3 GG gewährt dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit. Indem Art. 103 Abs. 3 GG bestimmt, dass wegen derselben Tat keine erneute Bestrafung erfolgen darf, hat das Grundgesetz selbst für den Anwendungsbereich dieser Bestimmung, mithin für strafgerichtliche Urteile, bereits entschieden, dass dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit zukommt.
Diese Vorrangentscheidung ist absolut. Sie steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen. Zwar folgt dies noch nicht zwingend aus dem Wortlaut oder der Entstehungsgeschichte. Bei systematischer Betrachtung erscheint Art. 103 Abs. 3 GG jedoch abwägungsfest.
Art. 103 Abs. 3 GG stellt eine besondere Ausprägung des im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Vertrauensschutzes dar, die ausschließlich für strafrechtliche Verfahren gilt. Als Sonderregelung mit eigenständigem Gehalt geht Art. 103 Abs. 3 GG in seinem Schutzgehalt über die allgemeinen Prinzipien hinaus, die ihrerseits bereits das Vertrauen in eine rechtskräftige Entscheidung schützen und eine übermäßige Beeinträchtigung der Interessen des Einzelnen verhindern. Dieser weiterreichende Vertrauensschutz beruht darauf, dass ihm unbedingter Vorrang gegenüber den grundsätzlich berechtigten Korrekturinteressen zukommt, die der Gesetzgeber ansonsten berücksichtigen könnte.
Art. 103 Abs. 3 GG korrespondiert in Bezug auf diese Unbedingtheit mit Art. 103 Abs. 2 GG, wonach es dem Strafgesetzgeber ausnahmslos verboten ist, rückwirkende Strafgesetze zu erlassen. Ein gleichlaufendes Verständnis des Art. 103 Abs. 3 GG als abwägungsfestes Recht komplementiert diesen materiell-rechtlichen Schutz des Einzelnen im Bereich des Strafrechts auf der verfahrensrechtlichen Ebene.
Art. 103 Abs. 2 und 3 GG stehen den Freiheitsrechten nahe, die nicht nur innerhalb eines Strafverfahrens zu beachten sind, sondern den Grundrechtsträger bereits vor einem Strafverfahren schützen, ohne dass es zur Verwirklichung dieses Schutzes noch einer gesetzlichen Umsetzung bedürfte. Darin unterscheiden sich Art. 103 Abs. 2 und 3 GG von den Rechten, die – wie beispielsweise der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) – auf die Gewährleistung von Rechtsschutz gerichtet sind. Der für alle Verfahrensarten geltende Anspruch auf rechtliches Gehör bedarf einer verfahrensrechtlichen Ausgestaltung durch den Gesetzgeber.
Auch Sinn und Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG sprechen dafür, dass die Norm absolute Geltung beansprucht. Der Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG als Individualrecht besteht zunächst darin, den staatlichen Strafanspruch um der Rechtssicherheit des Einzelnen willen zu begrenzen. Der Einzelne soll darauf vertrauen dürfen, dass er nach einem Urteil wegen des abgeurteilten Sachverhalts nicht nochmals belangt werden kann. Wäre dem Gesetzgeber vorbehalten, die Abwägung zwischen Rechtssicherheit und staatlichem Strafanspruch anders zu treffen, könnte Art. 103 Abs. 3 GG selbst das Vertrauen des Angeklagten in den Bestand des in seiner Sache ergangenen Strafurteils und damit Rechtssicherheit für den Einzelnen nicht begründen.
Daneben dient die Rechtskraft einer Entscheidung auch dem Rechtsfrieden. Es besteht ein vom Einzelnen unabhängiges Bedürfnis der Gesellschaft an einer endgültigen Feststellung der Rechtslage. Daher hat sich die moderne rechtsstaatliche Ordnung gegen die Erreichung des Ideals absoluter Wahrheit und für die in einem rechtsförmigen Verfahren festzustellende, stets nur relative Wahrheit entschieden. Auch das Strafrecht gebietet keine Erforschung der Wahrheit „um jeden Preis“.
Damit stellt Art. 103 Abs. 3 GG auch gegenüber dem das Wiederaufnahmerecht gestaltenden Gesetzgeber ein absolutes und abwägungsfestes Verbot dar.
c) Als abwägungsfestes Verbot ist das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG in Abgrenzung zu den allgemeinen rechtsstaatlichen Garantien eng auszulegen. Art. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, wenn wegen derselben Tat bereits durch ein deutsches Gericht ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist.
Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel.
Die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens kann etwa darauf gerichtet sein, ein mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarendes Urteil aufzuheben, ohne dass eine Änderung des materiellen Ergebnisses im Vordergrund steht. Ist dies der Fall, ist Art. 103 Abs. 3 GG nicht berührt. Das betrifft insbesondere die Wiederaufnahme von Strafverfahren gemäß § 362 Nr. 1–4 StPO. Die Möglichkeit, ein unter schwerwiegenden Mängeln gefundenes Urteil, das die Anforderungen an ein justizförmiges, rechtsgeleitetes Verfahren verfehlt, aufzuheben und das Verfahren zu wiederholen, sichert den Geltungsanspruch des Urteils und damit die rechtsstaatliche Autorität des Strafverfahrens ab. Die Aufhebung eines Freispruchs nach einem glaubwürdigen Geständnis verfolgt den Zweck, ein Verhalten zu verhindern, das die Autorität des rechtsstaatlichen Strafverfahrens infrage stellen würde.
Demgegenüber verbietet Art. 103 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel, die vorrangig auf eine inhaltlich „richtigere“ Entscheidung zielt. Die Korrektur eines Strafurteils mit dem Ziel, eine inhaltlich „richtigere“ und damit materiell gerechtere Entscheidung herbeizuführen, lässt sich mit der von Art. 103 Abs. 3 GG getroffenen unbedingten Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit nicht vereinbaren.
Die Rechtssicherheit, die durch ein justizförmig zustande gekommenes Urteil geschaffen wurde, erstreckt sich darauf, dass sie nicht durch das Auftauchen neuer Tatsachen oder Beweismittel infrage gestellt wird. Der Rechtsstaat nimmt die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Entscheidung vielmehr um der Rechtssicherheit willen in Kauf. Neue Tatsachen oder Beweismittel ziehen die Rechtsförmigkeit und Rechtsstaatlichkeit des vorausgegangenen Strafverfahrens nicht in Zweifel und begründen daher auch keinen schwerwiegenden Mangel der ergangenen Entscheidung. Deshalb zielt die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel nicht darauf, den Geltungsanspruch der ergangenen Entscheidung zu stärken, sondern stellt diese, im Gegenteil, zur Disposition.
Art. 103 Abs. 3 GG hat auch nicht aufgrund einer gewandelten Verfassungswirklichkeit eine veränderte Bedeutung erhalten, in deren Folge dem Gesetzgeber die Gestaltung einer – womöglich eng umgrenzten – Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel offen stünde. Zwar sind das Straf- und das Strafprozessrecht fortwährend Änderungen unterworfen. Insbesondere die Zulassung der Verständigung hat dabei Einfluss auf die Wahrheitsfindungsfunktion des Strafprozesses erlangt. An den verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Strafverfahren vermögen diese oder auch andere Entwicklungen jedoch nichts zu ändern.
Erst recht nehmen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Gesetzgeber nicht deshalb ab, weil eine gefestigte demokratische und rechtsstaatliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland dazu geführt hätte, dass eine Abkehr oder Aufweichung der verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht mehr zu befürchten sind.
Eine Ausweitung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums zur Regelung der Wiederaufnahme von Strafverfahren kann auch nicht auf die Belange von Opfern und deren Angehörigen gestützt werden. Zwar kann aus der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch gegen den Staat auf effektive Strafverfolgung folgen. Der Anspruch auf effektive Strafverfolgung verbürgt jedoch kein bestimmtes Ergebnis, sondern verpflichtet die Strafverfolgungsorgane grundsätzlich nur zu einem (effektiven) Tätigwerden. Die Gründe für eine Wiederaufnahme zulasten des Angeklagten aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel wurzeln jedoch nicht in gravierenden Mängeln der Strafverfolgung an sich und insbesondere nicht in der Nichtverfolgung einer Straftat. Ein Freispruch steht vielmehr am Ende eines Strafverfahrens, das gerade nicht eingestellt, sondern rechtsförmig durchgeführt worden ist.
Insbesondere der Verweis auf die fortlaufende Verbesserung der Ermittlungsmethoden stellt die Rechtsstaatlichkeit früherer Strafverfolgung nicht infrage. Wird die Aufklärung ungelöster Fälle mithilfe früher nicht verfügbarer Erkenntnismittel möglich, bestätigt dies vielmehr die rechtsstaatliche Unbedenklichkeit der früheren, wenn auch in der Sache unvollständigen Ergebnisse. Technischen Fortschritt unterstellt, kann eine spätere und daher mit moderneren Methoden durchgeführte Aufklärung die Chance besserer Erkenntnisse in sich tragen. Sie kann aber auch durch den Umstand belastet sein, dass nicht alle für das zuerst geführte Verfahren relevanten Beweismittel auch im zweiten Verfahren noch zur Verfügung stehen oder ebenso ertragreich sind, wie sie es im ersten Verfahren waren. Ein Strafprozess, der wegen des grundsätzlich stets möglichen Auftauchens neuer Tatsachen oder Beweismittel faktisch nie endete, würde für die Opfer beziehungsweise für ihre Hinterbliebenen eine erhebliche seelische Belastung darstellen, die das Bedürfnis an einer inhaltlich richtigen Aufklärung und Urteilsfindung immer weiter zurücktreten ließe, je mehr Zeit nach der Tat verstrichen wäre.
2. Die hier mittelbar angegriffene Norm des § 362 Nr. 5 StPO verstößt danach gegen das Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG.
a) Die Regelung des § 362 Nr. 5 StPO betrifft das Strafrecht. Nicht nur der Tatbestand des Mordes nach § 211 StGB, sondern auch die darüber hinaus von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch sind allgemeine Strafgesetze im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG.
b) § 362 Nr. 5 StPO stellt ferner auf ein rechtskräftiges Strafurteil eines deutschen Gerichts ab, worunter auch der Freispruch fällt. Die Norm ermöglicht mit der Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen eine erneute Strafverfolgung wegen derselben – bereits abgeurteilten – Tat.
c) Grund für die Wiederaufnahme gemäß § 362 Nr. 5 StPO sind neue Tatsachen oder Beweismittel. Zweck dieser Wiederaufnahme ist in erster Linie die inhaltliche Korrektur des Freispruchs. Bereits der Untertitel des Einführungsgesetzes – „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ – verweist auf diesen Zweck der Einführung des neuen Wiederaufnahmegrundes. Auch in der Gesetzesbegründung wird auf keinen anderen Zweck als die Korrektur des „unbefriedigenden“ beziehungsweise „schlechterdings unerträglichen“ Ergebnisses verwiesen, das bestünde, wenn eine Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel weiterhin ausgeschlossen wäre.
d) § 362 Nr.5 StPO unterläuft somit die in Art. 103 Abs. 3 GG getroffene – abwägungsfeste – Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit.
II. Zudem verletzt die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Verfahren, die bereits vor Inkrafttreten dieser Bestimmung durch rechtskräftigen Freispruch abgeschlossen waren, das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG).
1. Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet in ständiger Rechtsprechung zwischen Gesetzen mit „echter“ und solchen mit „unechter“ Rückwirkung. Eine Rechtsnorm entfaltet „echte“ Rückwirkung in Form einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung für vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll. Demgegenüber ist von einer „unechten“ Rückwirkung in Form einer tatbestandlichen Rückanknüpfung auszugehen, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition entwertet. Eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung) ist grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig.
2. Soweit § 362 Nr. 5 StPO die Wiederaufnahme für Verfahren ermöglicht, die bereits zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechtskräftig abgeschlossen waren, liegt darin eine „echte“ Rückwirkung, die auch nicht ausnahmsweise zulässig ist.
a) Die Regelung des § 362 Nr. 5 StPO erfasst auch Freisprüche, die bereits vor ihrem Inkrafttreten am 30. Dezember 2021 in Rechtskraft erwachsen sind. Eine andere Auslegung der ohne Übergangsbestimmungen erlassenen Norm kommt angesichts des deutlich erkennbaren Willens des Gesetzgebers nicht in Betracht. Gerade den streitgegenständlichen Fall und die vom Vater des Opfers mit initiierte Petition an den Deutschen Bundestag nimmt die Gesetzesbegründung ausdrücklich in Bezug.
b) Die Erstreckung auf Freisprüche, die bereits vor Inkrafttreten des § 362 Nr. 5 StPO rechtskräftig geworden sind, stellt eine „echte“ Rückwirkung im Sinne einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen dar. Im Strafverfahren enthält ein Freispruch den abschließenden Aussagegehalt, dass sich der Tatverdacht, der dem Strafverfahren zugrunde lag, nicht bestätigt hat. Der geregelte Lebenssachverhalt, an den eine gesetzliche Neuregelung der Wiederaufnahme Rechtsfolgen knüpft, ist das Verfahren, nicht der zugrundeliegende, den Verfahrensgegenstand prägende tatsächliche Sachverhalt. Erfolgt die Wiederaufnahme aufgrund einer Norm, die erst nachträglich in Kraft tritt, ändert sie die Rechtsfolgen eines Freispruchs. Den zuvor bestehenden Vorbehalten, die in den bisherigen Wiederaufnahmegründen zum Ausdruck kommen, fügt die Neuregelung einen weiteren Vorbehalt hinzu.
c) Die mit der Neuregelung des § 362 Nr. 5 StPO einhergehende „echte“ Rückwirkung ist verfassungsrechtlich nicht ausnahmsweise zulässig. Die Voraussetzungen der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Ausnahmen liegen nicht vor. Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der bisherigen Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an, und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang.
Die Unverjährbarkeit der von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Delikte gebietet keine andere Bewertung. Gerade für unverjährbare Delikte kann erst ein Freispruch die weitere Strafverfolgung ausschließen. Er trifft, anders als das Institut der Verjährung, eine ausdrückliche staatliche Entscheidung darüber, dass die Voraussetzungen für die Bestrafung eines bestimmten Verhaltens nicht erfüllt sind, und knüpft hieran den Ausschluss erneuter Strafverfolgung. Daher entfaltet ein Freispruch eine noch stärkere Zäsurwirkung als der Eintritt der Verfolgungsverjährung.
Unerheblich ist, ob der Betroffene zum Zeitpunkt seines Freispruchs wusste, dass das Urteil materiell-rechtlich falsch war. In Fortsetzung des Grundsatzes in dubio pro reo schützen der Grundsatz ne bis in idem und Art. 103 Abs. 3 GG den Freigesprochenen gerade unabhängig von dessen materiell-rechtlicher Schuld.
Die vom Gesetzgeber mit der Regelung des § 362 Nr. 5 StPO insgesamt beabsichtigte Verwirklichung des Prinzips der materialen Gerechtigkeit verdrängt die zentrale Bedeutung der Rechtssicherheit für den Rechtsstaat nicht. Der Freispruch eines möglicherweise Schuldigen und der Fortbestand dieses Freispruchs trotz abnehmender Zweifel an der Schuld des Freigesprochenen sind unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls nicht „unerträglich“, sondern vielmehr Folgen einer rechtsstaatlichen Strafrechtsordnung, in der der Zweifelsgrundsatz eine zentrale Rolle spielt.
III. Gemäß § 95 Abs. 3 BVerfGG ist § 362 Nr. 5 StPO für nichtig zu erklären. Die auf dieser Vorschrift beruhenden Beschlüsse des Oberlandesgerichts und des Landgerichts sind nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, und die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen.
Abweichende Meinung des Richters Müller und der Richterin Langenfeld:
Der Auffassung der Senatsmehrheit, dass Art. 103 Abs. 3 GG einer Ergänzung der bestehenden Wiederaufnahmegründe zuungunsten der betroffenen Person prinzipiell entgegensteht, können wir nicht folgen.
1. Der Gewährleistungsinhalt des Art. 103 Abs. 3 GG ist für eine Abwägung mit entgegenstehenden Verfassungsgütern und in der Folge für eine Ergänzung der bestehenden Wiederaufnahmegründe grundsätzlich offen.
a) Wäre Art. 103 Abs. 3 GG uneingeschränkt abwägungsfest, wäre für jegliche Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen von vornherein kein Raum. Auch die Senatsmehrheit sieht die bestehenden Möglichkeiten einer Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen gemäß § 362 Nr. 1-4 StPO als verfassungsrechtlich unbedenklich an.
b) Nach unserer Überzeugung steht es dem Gesetzgeber offen, unter Beachtung der sich aus Art. 103 Abs. 3 GG ergebenden engen verfassungsrechtlichen Grenzen, die bestehenden Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Betroffenen zu ergänzen. Es handelt sich bei der Vorschrift um ein vorbehaltlos gewährleistetes grundrechtsgleiches Recht. Als solches unterliegt es verfassungsimmanenten Schranken.
c) Der Rückgriff der Senatsmehrheit auf die Systematik des Art. 103 Abs. 3 GG zur Begründung der Abwägungsfestigkeit der Bestimmung überzeugt nicht.
Art. 103 Abs. 3 GG stellt, wie der Senat zutreffend festhält, eine besondere Ausprägung des im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Vertrauensschutzes dar, die ausschließlich für das strafrechtliche Verfahren gilt. Die Behauptung, diesem besonderen Vertrauensschutz komme unbedingter Vorrang gegenüber etwaigen Korrekturinteressen des Gesetzgebers zu, setzt indes voraus, dass der Verfassungsgeber eine solche absolute Vorrang-
entscheidung der Rechtssicherheit vor dem ebenfalls verfassungsrechtlich verbürgten Prinzip der materialen Gerechtigkeit tatsächlich getroffen hat. Dies ist nicht der Fall. Vielmehr hat der Verfassungsgeber die im einfachen Recht vorgefundenen Wiederaufnahmetatbestände unangetastet gelassen. Es ist nicht ersichtlich, aus welchem Grund der Gesetzgeber angesichts dessen daran gehindert sein sollte, weitere Ausnahmen vom Grundsatz ne bis in idem vorzusehen, wenn sie den allgemeinen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Zulässigkeit solcher Beschränkungen genügen und sich als zulässige Konkretisierungen immanenter Schranken des Art. 103 Abs. 3 GG darstellen. Die von der Senatsmehrheit angeführten Unterschiede zwischen den bestehenden Wiederaufnahmegründen in § 362 Nr. 1-4 StPO und der streitgegenständlichen Norm des § 362 Nr. 5 StPO sind nicht geeignet, eine derart kategoriale Differenzierung in Hinblick auf die Abwägungsfestigkeit zu tragen.
Aus unserer Sicht bestätigen die bestehenden Regelungen, dass eine Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen strafgerichtlichen Verfahrens zuungunsten des Betroffenen in Betracht kommen kann, wenn das Gewicht der Wiederaufnahmegründe und das dahinterstehende Anliegen einer materiell schuldangemessenen Sanktionierung als Ausdruck einer effektiven Strafrechtspflege den grundsätzlichen Bestand rechtskräftiger Entscheidungen ausnahmsweise überwiegt. Für die in § 362 Nr. 1-4 StPO normierten Tatbestände ist der Verfassungsgeber von einem solchen Überwiegen unstreitig ausgegangen. Dies dokumentiert, dass es verfassungsrechtlich unbedenkliche Fälle gibt, in denen der in Art. 103 Abs. 3 GG normierte Vorrang der Rechtssicherheit zurücktritt.
Die überkommenen Wiederaufnahmegründe des § 362 Nr. 1-3 StPO sehen eine Wiederaufnahme bei schweren Verfahrensmängeln vor. Sie ermöglichen eine Korrektur einer qualifiziert defizitären Beweisführung. Im Fall des § 362 Nr. 5 StPO geht es ebenfalls um die Korrektur eines Freispruches, der aufgrund von Beweismitteldefiziten in der ursprünglichen Hauptverhandlung, die allerdings erst im Nachhinein offenbar geworden sind, zustande gekommen ist.
Dies gilt erst recht mit Blick auf § 362 Nr. 4 StPO. Im Fall des nachträglichen glaubwürdigen Geständnisses (§ 362 Nr. 4 StPO) ist die Beweislage zulasten des Freigesprochenen verändert mit der Folge, dass eine Wiederaufnahme möglich wird. Nicht anders verhält es sich bei § 362 Nr. 5 StPO, der voraussetzt, dass neue Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe für eine Verurteilung bilden.
Abgesehen davon, dass mit der Auffassung der Senatsmehrheit Zufälligkeiten einer vorkonstitutionellen Rechtslage verfassungsrechtlich versteinert würden, sind mit dieser Sicht schwerlich auflösbare Wertungswidersprüche verbunden. Insbesondere ist es kaum zu erklären, aus welchem Grunde ein Freigesprochener, der in einem Wirtschaftsstrafverfahren von einer gefälschten Urkunde profitiert hatte (die er noch nicht einmal selbst gefälscht haben muss), sich einer erneuten Anklage stellen muss, dagegen aber nicht jemand, der in einem Verfahren wegen Mordes durch ein molekulargenetisches Gutachten der Täterschaft überführt wird. Ebenso dürfte kaum vermittelbar sein, warum in einem Fall, in dem nach einem Freispruch ein Täter, der Kriegsverbrechen gesteht, erneut angeklagt werden kann, während sein ebenfalls freigesprochener Komplize, der nicht geständig ist, trotz des Auftauchens neuer erdrückender Beweise straflos bleibt.
Auch Sinn und Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG erfordern – anders, als die Senatsmehrheit meint – nicht seine Abwägungsfestigkeit. Der Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG als Individualrecht besteht darin, den staatlichen Strafanspruch um der Rechtssicherheit des Einzelnen willen zu begrenzen. Daneben dient Art. 103 Abs. 3 GG auch der Sicherung des Rechtsfriedens. Diese Grund-
entscheidung wird durch eine Beschränkung des Art. 103 Abs. 3 GG, die im Ausnahmefall dem Strafanspruch des Staates zur Herstellung materialer Gerechtigkeit den Vorrang einräumt, indes nicht aufgehoben. Der Gesetzgeber darf berücksichtigen, dass der Rechtsfrieden auch Schaden erleiden kann, wenn im Falle schwerster Straftaten im Sinne von § 362 Nr. 5 StPO ein Betroffener trotz erdrückender Beweise straflos bleibt. Der Notwendigkeit möglichst lückenloser Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in solchen Fällen hat der Gesetzgeber durch die Anordnung der Unverjährbarkeit dieser Straftaten Rechnung getragen. Es erschließt sich nicht, dass die Berücksichtigung der dem zugrundeliegenden Wertung bei der Frage der Wiederaufnahme von vornherein ausgeschlossen sein soll.
2. Der Strafklageverbrauch nach Art. 103 Abs. 3 GG steht demgemäß einer weiteren Einschränkung durch eine Ergänzung der Wiederaufnahmegründe durch § 362 Nr. 5 StPO nicht grundsätzlich entgegen. Die Gefahr eines „Dammbruchs“ besteht angesichts der Begrenzung auf schwerste, unverjährbare Straftaten und der sonstigen engen tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm nicht. Die Ermöglichung der Wiederaufnahme gemäß § 362 Nr. 5 StPO dient der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches bei wenigen besonders schweren Straftaten. Das dahinterstehende Ziel ist die Stabilisierung und Sicherung des Rechtsfriedens und die Durchsetzung von Normen zum Schutz höchstrangiger subjektiver Rechtsgüter und von fundamentalen völkerrechtlichen Interessen.
3. Ob die konkrete Ausgestaltung der streitgegenständlichen Norm des § 362 Nr. 5 StPO in jeder Hinsicht verhältnismäßig im engeren Sinne und hinreichend bestimmt ist, bedürfte näherer Prüfung.
4. Unabhängig von bestehenden Zweifeln an der Vereinbarkeit der konkreten Ausgestaltung der streitgegenständlichen Norm mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Bestimmtheit liegt ein Verstoß gegen das Verbot der echten Rückwirkung aus Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG vor.
Beschluss vom 14. Juni 2023, 2 BvL 3/20, 2 BvL 8/23, 2 BvL 2/23, 2 BvL 1/23, 2 BvL 14/22, 2 BvL 13/22, 2 BvL 12/22, 2 BvL 5/22, 2 BvL 4/22, 2 BvL 3/22, 2 BvL 7/21, 2 BvL 5/21, 2 BvL 14/20
Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Unzulässigkeit mehrerer Richtervorlagen zum strafbewehrten Verbot von Cannabisprodukten festgestellt. Die vorlegenden Gerichte – das Amtsgericht Bernau bei Berlin, das Amtsgericht Münster und das Amtsgericht Pasewalk – erachteten Strafnormen des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) für verfassungswidrig, soweit diese den Umgang mit Cannabisprodukten betreffen.
Den inhaltlich nur geringfügig voneinander abweichenden Vorlagen fehlt es bereits an der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit aller vorgelegter Strafnormen für das jeweilige Ausgangsverfahren. Im Übrigen genügen sie nicht den erhöhten Begründungsanforderungen, die an eine erneute Vorlage zu stellen sind. Es fehlt an einer substantiierten Darlegung rechtserheblicher Änderungen der Sach- und Rechtslage, welche geeignet sind, eine erneute verfassungsgerichtliche Prüfung der mit Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 1994 (BVerfGE 90, 145 ff.) entschiedenen Vorlagefragen zu veranlassen.
Sachverhalt:
Betäubungsmittel im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes sind insbesondere die in Anlage I zu § 1 BtMG aufgeführten Stoffe und Zubereitungen. Anlage I führt unter anderem verschiedene Cannabisprodukte auf. Die §§ 29 ff. BtMG stellen bestimmte Formen des Umgangs mit Betäubungsmitteln, also auch mit Cannabisprodukten, unter Strafe.
Das Bundesverfassungsgericht stellte mit Beschluss vom 9. März 1994 (BVerfGE 90, 145 ff.) unter anderem fest, dass § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG, soweit er das Handeltreiben sowie die Einfuhr, die Abgabe und den Erwerb von Cannabisprodukten ohne Erlaubnis mit Strafe bedroht, und § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BtMG, soweit er den Besitz von Cannabisprodukten mit Strafe bedroht, mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
Die vorlegenden Amtsgerichte haben mehrere Strafverfahren, in denen es jeweils um strafbewehrte Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz durch den Umgang mit Cannabisprodukten ging, ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Regelungen des Betäubungsmittelgesetzes, soweit sie Cannabisprodukte betreffen, zur verfassungsrechtlichen Prüfung vorgelegt. Die Gerichte machen insbesondere geltend, das strafbewehrte Cannabisverbot greife unverhältnismäßig in die durch Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) geschützte allgemeine Handlungsfreiheit, in das durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht und in die durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG geschützte Freiheit der Person ein und verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 103 Abs. 2 GG.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die Vorlagen sind unzulässig.
1. Soweit die Vorlagen des Amtsgerichts Bernau bei Berlin pauschal alle Normen des Betäubungsmittelgesetzes, soweit sie den Umgang mit Cannabisprodukten betreffen, zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung stellen, fehlt es bereits an der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit der Vorschriften. Dies gilt im Ergebnis auch für die Vorlagen des Amtsgerichts Pasewalk und des Amtsgerichts Münster. Die vorlegenden Gerichte beanstanden die grundsätzliche Einordnung von Cannabis als Betäubungsmittel, ohne einen Bezug zu den im jeweiligen Ausgangsverfahren anzuwendenden Strafnormen herzustellen. Eine konkrete Normenkontrolle ist jedoch kein Mittel der allgemeinen Aufsicht über den Gesetzgeber. Ihr Gegenstand können nur Vorschriften sein, deren Gültigkeit für die von dem vorlegenden Gericht zu treffende Entscheidung von Bedeutung ist. Dass dies alle Regelungen des Betäubungsmittelgesetzes mit Bezug auf den Umgang mit Cannabisprodukten sind, ist nicht dargelegt und auch sonst nicht ersichtlich.
2. Im Übrigen genügen die Vorlagen nicht den erhöhten Begründungsanforderungen, die an eine erneute Vorlage zu stellen sind. Es fehlt an einer substantiierten Darlegung rechtserheblicher Änderungen der Sach- und Rechtslage, welche geeignet sind, eine erneute verfassungsgerichtliche Prüfung der mit Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 1994 entschiedenen Vorlagefragen zu veranlassen. Letztlich beschränken sich die Vorlagegerichte darauf, dem Rechtsstandpunkt des Bundesverfassungsgerichts eigene, davon abweichende rechtliche Bewertungen gegenüberzustellen.
a) Dass die Einnahme von Rauschmitteln grundsätzlich der durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit unterfallen kann, wird durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1994 nicht in Zweifel gezogen. Es hat diese Handlung allerdings den Schranken des 2. Halbsatzes von Art. 2 Abs. 1 GG unterworfen und ausgeführt, dass der Umgang mit Drogen, insbesondere das Sichberauschen, nicht zum unbeschränkbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung gehört. Daher ist die Aussage in den Vorlagen des Amtsgerichts Bernau bei Berlin verkürzt, das Bundesverfassungsgericht habe ein „Recht auf Rausch“ verneint. Denn dieses hat nur entschieden, dass es kein „Recht auf Rausch“ gibt, das den Beschränkungen des Art. 2 Abs. 1 GG entzogen wäre. Soweit sich das Amtsgericht gegen diese verfassungsgerichtliche Auffassung stellt, genügt seine Argumentation den erhöhten Anforderungen an die Begründung einer erneuten Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG daher schon deshalb nicht, weil es von einem falschen verfassungsrechtlichen Maßstab ausgeht. Aber auch inhaltlich vermag es die Grundaussage des Bundesverfassungsgerichts, der Umgang mit Drogen, insbesondere das Sichberauschen, könne nicht zu dem keinen Beschränkungen unterworfenen Kernbereich privater Lebensgestaltung gerechnet werden, nicht zu erschüttern.
b) Die Vorlagen zeigen keine rechtserheblichen Änderungen der Sach- und Rechtslage auf, auf deren Grundlage die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 1994, wonach der mit dem strafbewehrten Cannabisverbot verbundene Eingriff in die Freiheitsrechte der Konsumenten gerechtfertigt ist, nicht mehr tragfähig sein könnte. Sie gehen von einem unzutreffenden Verständnis der Maßstäbe für eine verfassungsgerichtliche Überprüfung von Strafnormen aus. Ihre Erwägungen nehmen weder die Argumentation aus der Entscheidung vom 9. März 1994 in richtiger Weise auf noch zeigen sie rechtserhebliche Änderungen der Sach- und Rechtslage auf, die geeignet wären, die Tragfähigkeit der dortigen Begründung für eine Verfassungskonformität der vorgelegten Strafnormen in Frage zu stellen.
aa) Dies gilt zunächst für die Argumentation der Vorlagen zum angeblichen Fehlen eines legitimen Zwecks.
(1) Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung vom 9. März 1994 dem Betäubungsmittelstrafrecht und der Einordnung von Cannabis als Betäubungsmittel mehrere Zwecke zuerkannt. Die Regelungen sollen die Gesundheit sowohl des Einzelnen als auch der Bevölkerung im Ganzen vor den von Cannabisprodukten ausgehenden Gefahren schützen und vor allem Jugendliche vor der Abhängigkeit von Betäubungsmitteln bewahren. Außerdem soll das Betäubungsmittelstrafrecht das soziale Zusammenleben vor den Gefahren schützen, die von sozialschädlichen Wirkungen des Umgangs mit Drogen, auch des Umgangs mit der sogenannten weichen Droge Cannabis, ausgehen. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang darauf abgestellt, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Gefährlichkeit von Cannabis nichts daran änderten, dass der mit der Einordnung als Betäubungsmittel verbundene Zweck vor der Verfassung Bestand habe. Zwar habe sich der Cannabiskonsum als weit weniger gefährlich erwiesen, als es der Gesetzgeber noch bei Erlass des Betäubungsmittelgesetzes angenommen habe. Die Annahme gänzlich fehlender Gefährlichkeit von Cannabis sei aber weiterhin ungesichert.
(2) Die Vorlagen zeigen nicht substantiiert auf, weshalb die damals gebilligte Zielsetzung des Betäubungsmittelstrafrechts auf verfassungsrechtlicher Ebene keinen Bestand mehr haben sollte. Sie gehen selbst nicht davon aus, dass Cannabis vollkommen ungefährlich ist. Sie beschränken sich weitgehend darauf, bekannte Gesichtspunkte einer neuen, eigenen Bewertung zu unterziehen und auf Unsicherheiten in der medizinischen Forschung zu verweisen.
Die Vorlagen stützen sich im Wesentlichen darauf, dass für einen erwachsenen Gelegenheitskonsumenten keine erheblichen Gefahren vom Cannabiskonsum ausgingen. Dabei setzen sie sich nicht damit auseinander, dass das Bundesverfassungsgericht bereits berücksichtigt hat, dass über die Bewertung der Gefahren des Cannabiskonsums keine Einigkeit besteht, die unmittelbaren gesundheitlichen Schäden bei mäßigem Genuss jedoch eher als gering eingeschätzt werden. Die Vorlagen bringen somit keine neuen Erkenntnisse vor, welche diese Ausführungen als nicht mehr verfassungsrechtlich tragfähig erscheinen ließen.
Die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts werden auch nicht dadurch tragfähig in Zweifel gezogen, dass die Vorlagen dem Gefährdungspotential von Cannabis dessen medizinischen Nutzen entgegenhalten. Denn die vorlegenden Gerichte bringen dieses Argument nicht in einen Zusammenhang mit den bestehenden Regelungen zur medizinischen Nutzung von Cannabis. Damit genügen die Vorlagen ihrer Aufgabe nicht, die weiteren mit den zur Überprüfung gestellten Normen im Zusammenhang stehenden Bestimmungen in ihre rechtlichen Erwägungen einzubeziehen.
bb) Die Vorlagen erschüttern ferner nicht die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung vom 9. März 1994 zur Geeignetheit des strafbewehrten Cannabisverbots.
(1) Ausgangspunkt der dortigen Geeignetheitsprüfung des Bundesverfassungsgerichts waren die von ihm angenommenen Gefahren und Risiken des Cannabiskonsums. Es hat auch in diesem Zusammenhang berücksichtigt, dass sich die von Cannabisprodukten ausgehenden Gesundheitsgefahren schon damals als geringer darstellten, als es der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes angenommen hatte. Weiterer Ausgangspunkt der Prüfung war die gesetzliche Konzeption, den gesamten Umgang mit Cannabisprodukten mit Ausnahme des Konsums selbst wegen der von der Droge und dem Handel mit ihr ausgehenden Gefahren für den Einzelnen und die Allgemeinheit einer umfassenden staatlichen Kontrolle zu unterwerfen und zur Durchsetzung dieser Kontrolle den unerlaubten Umgang mit Cannabisprodukten lückenlos mit Strafe zu bedrohen.
(2) Die Vorlagen ziehen in ihrer Darlegung diese Aussagen nicht verfassungsrechtlich tragfähig in Zweifel. Sie berücksichtigen die vom Gesetzgeber verfolgten – und in der Entscheidung vom 9. März 1994 gebilligten – Zielsetzungen des Gesetzgebers nur unvollständig.
Die Tatsache, dass im rechtlichen Zusammenleben gegen Strafgesetze verstoßen wird, spricht für sich allein nicht gegen deren generelle Eignung zur Erreichung des mit ihnen verbundenen Zwecks.
Das Betäubungsmittelstrafrecht ist darauf ausgerichtet, insbesondere auf Handelsebene, den sozialen Unwert, den der Gesetzgeber Betäubungsmittelhandelsgeschäften zuspricht, zu kennzeichnen und diese Geschäfte zu sanktionieren. Von besonderer Bedeutung ist dabei, das Universalrechtsgut des Jugendschutzes zu stärken und weiteren Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität zu begegnen.
Von den Vorlagen wird nicht dargetan, dass das Betäubungsmittelstrafrecht aufgrund einer rechtserheblichen Änderung der Sach- und Rechtslage nunmehr generell ungeeignet wäre, die Gesetzeszwecke zu fördern. Sie setzen sich mit diesen Zielsetzungen des Betäubungsmittelstrafrechts nicht auseinander. Zudem blenden sie die Gründe aus, die im Gesetzgebungsverfahren für die Ausgestaltung des Betäubungsmittelstrafrechts maßgeblich waren.
cc) Die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zur Erforderlichkeit eines strafbewehrten Cannabisverbots und der dieses Verbot ausfüllenden Strafnormen werden durch die Vorlagen ebenfalls nicht in Frage gestellt.
(1) Es hat in seiner Entscheidung vom 9. März 1994 die Einschätzung des Gesetzgebers, die strafbewehrten Verbote gegen den unerlaubten Umgang mit Cannabisprodukten seien erforderlich, um die Ziele des Gesetzes zu erreichen, von Verfassungs wegen nicht beanstandet. Den Einwand, die bisherige Cannabis-Prohibition habe die Gesetzesziele nicht vollständig erreichen können und eine Freigabe von Cannabis würde als milderes Mittel diese Zwecke eher erfüllen, hat es nicht als durchgreifend angesehen, weil die kriminalpolitische Diskussion darüber noch nicht abgeschlossen sei. Ausdrücklich hat das Bundesverfassungsgericht die Einschätzungs- und Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers für die Wahl zwischen mehreren potentiell geeigneten Wegen zur Erreichung eines Gesetzesziels herausgestellt. Es hat darauf verwiesen, dass nur unter besonderen Voraussetzungen Fälle denkbar seien, in denen gesicherte kriminologische Erkenntnisse im Rahmen der Normenkontrolle Beachtung erforderten, weil sie den Gesetzgeber zu einer bestimmten Behandlung einer von Verfassungs wegen gesetzlich zu regelnden Frage zwängen oder ihm geböten, die getroffene Regelung als mögliche Lösung auszuschließen.
(2) Vor dem Hintergrund dieses eingeschränkten verfassungsgerichtlichen Kontrollmaßstabs fehlt den Vorlagen die erforderliche Substanz.
Es ist Sache des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, Strafnormen gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Rechtspolitische Forderungen nach einer „besseren Cannabispolitik“ sind daher generell nicht geeignet, die Entscheidung des Gesetzgebers im Hinblick auf ihre Erforderlichkeit zur Erreichung des mit ihnen verfolgten Zwecks verfassungsrechtlich tragfähig in Zweifel zu ziehen. Gesicherte kriminologische Erkenntnisse, die geeignet wären, den Gesetzgeber zu einer bestimmten Behandlung einer von Verfassung wegen gesetzlich zu regelnden Frage zu zwingen oder doch die getroffene Regelung als mögliche Lösung auszuschließen, zeigen die Vorlagen nicht auf.
dd) Die Vorlagen machen ferner nicht deutlich, weshalb die tragenden Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zur Angemessenheit des strafbewehrten Cannabisverbots und der dieses Verbot ausfüllenden Strafnormen von Verfassungs wegen keinen Bestand mehr haben können.
(1) Das allgemeine Konzept des Gesetzgebers, den Umgang mit Cannabisprodukten – abgesehen von sehr engen Ausnahmen – umfassend zu verbieten, verstößt nach der Entscheidung vom 9. März 1994 nicht gegen das Übermaßverbot. Es ist durch die Zwecke gerechtfertigt, die Bevölkerung, insbesondere die Jugend, vor den von der Droge ausgehenden Gesundheitsgefahren sowie vor der Gefahr einer psychischen Abhängigkeit zu schützen und deshalb vor allem kriminellen Organisationen, die den Drogenmarkt beherrschen, und ihrem gemeinschädlichen Wirken entgegenzutreten. Diesen wichtigen Gemeinschaftsbelangen gegenüberstehende gleichwertige Interessen an einer Freigabe des Umgangs mit Cannabis hat das Bundesverfassungsgericht nicht gesehen. Der Zweite Senat hat außerdem die Entscheidung des Gesetzgebers gebilligt, zur Durchsetzung des Verbots das Mittel der Kriminalstrafe einzusetzen.
Dabei hat das Bundesverfassungsgericht auch die in § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG enthaltene Strafdrohung für den unerlaubten Erwerb von Cannabisprodukten sowie die in § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 normierte Strafdrohung für den unerlaubten Besitz dieser Droge nicht für unverhältnismäßig gehalten. Einschränkend hat der Senat jedoch betont, dass gerade in diesen Fällen das Maß der von der einzelnen Tat ausgehenden Rechtsgütergefährdung und der individuellen Schuld gering sei und die Verhängung von Kriminalstrafen gegen Probierer und Gelegenheitskonsumenten kleiner Mengen von Cannabisprodukten in ihren Auswirkungen auf den einzelnen Täter zu spezialpräventiv eher nachteiligen Ergebnissen führen könne. Dennoch hat er auch unter Berücksichtigung solcher Fallgestaltungen keinen Verstoß der generellen Strafandrohung für den unerlaubten Erwerb und den unerlaubten Besitz von Cannabisprodukten gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot angenommen. Er hat insoweit auf die Möglichkeiten verwiesen, von der Verfolgung solcher Taten gemäß § 31a BtMG oder von einer Bestrafung des Täters gemäß § 29 Abs. 5 BtMG abzusehen.
(2) Die Vorlagen bringen keine rechtserheblichen Änderungen der Sach- und Rechtslage vor, die die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts erschüttern.
Den von den Vorlagen vorgebrachten Gesichtspunkt, dass die Konzeption des umfassenden Cannabisverbots gegen das Übermaßverbot verstoße, weil sie auch konsumnahe Delikte, die auf geringe Mengen bezogen sind, unter Strafe stelle, hat das Bundesverfassungsgericht ebenso bedacht wie den Umstand einer Kriminalisierung von „Millionen von Konsumenten“. Auch dass für einen erwachsenen Gelegenheitskonsumenten keine erheblichen Gefahren vom Cannabiskonsum ausgehen sollen, ist Grundlage der Entscheidung vom 9. März 1994 gewesen. Letztlich zeigen die vorlegenden Gerichte mit diesem Vorbringen nur auf, dass sie die prozessuale Lösung des Bundesverfassungsgerichts für verfehlt halten.
Liberalisierungstendenzen in anderen Staaten oder die rechtspolitische Diskussion der Entkriminalisierung in der Bundesrepublik Deutschland stellen ebenfalls keine rechtserheblichen Änderungen der Sach- und Rechtslage dar, die geeignet wären, die tragenden Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zur prozessualen Lösung verfassungsrechtlich durchgreifend in Zweifel zu ziehen.
c) Die Vorlagen zeigen auch unter dem Aspekt des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG nicht auf, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 1994 in ihrer Begründung keinen Bestand mehr haben kann.
aa) Zur behaupteten Verfassungswidrigkeit einer Ungleichbehandlung von Cannabis und Alkohol bringen die Vorlagen keine rechtserheblichen Änderungen der Sach- und Rechtslage vor, die die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts, mit denen es diese Ungleichbehandlung als gerechtfertigt angesehen hat, erschüttern.
(1) Das Bundesverfassungsgericht hat es als verfassungsrechtlich zulässig erachtet, im Sachbereich des Betäubungsmittelstrafrechts anzunehmen, dass für die unterschiedliche Regelung des Umgangs mit Cannabisprodukten einerseits und mit Alkohol und Nikotin andererseits Gründe von solcher Art und solchem Gewicht vorhanden sind, die die unterschiedlichen Rechtsfolgen für die Betroffenen rechtfertigen. Unter anderem hat der Senat darauf abgestellt, dass der Gesetzgeber den Genuss von Alkohol wegen der herkömmlichen Konsumgewohnheiten in Deutschland und im europäischen Kulturkreis nicht effektiv unterbinden könne.
(2) Die Argumentation der Vorlagen, Alkoholkonsum sei weit gefährlicher und schädlicher als Cannabiskonsum und daher seien Cannabis und Alkohol keine „potentiell gleich gefährlichen Drogen“, genügt den Darlegungsanforderungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG nicht. Soweit die Vorlagen einen Gefährlichkeits- und Schädlichkeitsvergleich bemühen, verkennen sie, dass nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das Maß der Gesundheitsgefährdung nicht das einzig maßgebliche Kriterium für die Aufnahme eines Stoffs in die Positivliste bildet. Der Zweite Senat ist vielmehr davon ausgegangen, dass der Missbrauch von Alkohol Gefahren sowohl für den Einzelnen wie auch die Allgemeinheit mit sich bringt, die denen des Konsums von Cannabisprodukten gleichkommen oder sie sogar übertreffen. Gleichwohl hat er es nicht als durch Art. 3 Abs. 1 GG geboten angesehen, auf das Verbot des Rauschmittels Cannabis zu verzichten, weil der Genuss von Alkohol nicht effektiv unterbunden werden könne. Damit setzen die Vorlagen sich nicht hinreichend auseinander; insbesondere genügt der bloße Hinweis auf angeblich geänderte kulturelle Gewohnheiten in Bezug auf Cannabis hierfür nicht.
bb) Der Vortrag der Vorlagen zur Verfassungswidrigkeit der unterschiedlichen Rechtsanwendungspraxis bei der Anwendung des § 31a BtMG (Absehen von der Verfolgung) genügt ebenfalls nicht den Begründungsanforderungen.
Soweit die Vorlagen in der unterschiedlichen Rechtsanwendungspraxis neue entscheidungserhebliche Tatsachen sehen, die zur Zulässigkeit der hilfsweise vorgelegten Frage der Verfassungswidrigkeit des § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG in der Alternative des Erwerbens von Cannabis und des § 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG, jeweils in Verbindung mit Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG, führen, trifft dies zwar im Ausgangspunkt zu. Jedoch setzen sich die Vorlagen insoweit nicht mit den Erwägungen des Senats zu einer Verletzung des Übermaßverbots durch § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG a. F. und § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BtMG a. F. auseinander. Vielmehr machen sie einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG geltend und verkennen dabei, dass – ihrer Argumentation folgend – dieser Verstoß nicht in der Rechtssetzung, sondern in der Rechtsanwendung liegt. Die vorlegenden Gerichte lassen außer Betracht, dass eine – an sich nicht zu beanstandende – gesetzliche Regelung, gegen die in der Rechtsanwendungspraxis in verfassungswidriger Weise verstoßen wird, grundsätzlich nur dann selbst das Grundgesetz verletzt, wenn die verfassungswidrige Praxis auf die Vorschrift selbst zurückzuführen ist, mithin Ausdruck eines strukturbedingt zu dieser Praxis führenden normativen Regelungsdefizits ist. Eine solche Konstellation zeigen die Vorlagen nicht auf.
d) Eine Verletzung des Gesetzlichkeitsprinzips aus Art. 103 Abs. 2 GG, insbesondere in der Ausprägung als Bestimmtheitsgebot, legen die Vorlagen ebenfalls nicht in einer den Begründungsanforderungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG genügenden Weise dar.
aa) Die Vorlagen sehen den Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG darin, dass der Gesetzgeber keine Schwellenwerte für den Begriff der geringen Menge in § 31a Abs. 1 Satz 1 BtMG festgelegt hat. Das Amtsgericht Pasewalk bezieht zusätzlich den Begriff der nicht geringen Menge in § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG in die Argumentation ein. Weil die Rechtsanwendungspraxis bei der Abgrenzung der Mengenbegriffe von unterschiedlichen Parametern ausgehe (Nettogewicht einerseits, Wirkstoffgehalt andererseits), sei nicht vorhersehbar, wann die Gefahr einer Bestrafung nach welcher Vorschrift bestehe.
bb) Dies genügt den gesetzlichen Begründungsanforderungen erneut nicht, weil sich die Vorlagen nicht in der gebotenen Weise mit dem verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab und der maßgeblichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gesetzlichkeitsprinzip und dessen Ausprägung als Bestimmtheitsgebot auseinandersetzen. Die vorlegenden Gerichte verkennen, dass gegen die Verwendung wertausfüllungsbedürftiger Begriffe bis hin zu Generalklauseln im Strafrecht jedenfalls dann keine Bedenken bestehen, wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs oder aufgrund einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für eine Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt. Dies ist bei den Mengenbegriffen des Betäubungsmittelstrafrechts der Fall. Sie haben durch eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung Konturierung erfahren.
Verurteilungen wegen des Besitzes von Cannabis in Form von Haschisch oder Marihuana bis 25 g und einen THC-Gehalt von nicht mehr als 10 % können mit Inkatftreten der Cannabislegalisierung nachträglich gelöscht werden. Da bei geringen Mengen von Canabis in Regel der THC-Gehalt nicht festsgestellt wurde, ist für den Löschungsauftrag das Gewicht des damals festgestellten Cannabis entscheidend. Gemäß dem Gesetzeseentwurf zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften (CannG) können etwaige Einträge gemäß § 52 CannG gelöscht werden.
§ 52
Tilgung von Einträgen aus dem Bundeszentralregister
(1) Ist eine Verurteilung ausschließlich wegen einer Handlung ergangen, für die dieses
Gesetz keine Strafe mehr vorsieht, oder droht dieses Gesetz für die Handlung nur noch
Geldbuße allein oder Geldbuße mit einer Nebenfolge an, wird die Eintragung im
Bundeszentralregister auf Antrag der betroffenen Person getilgt.
(2) Das Bundesministerium der Justiz wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung, die
der Zustimmung des Bundesrates bedarf, das Nähere zu dem Antragsverfahren
hinsichtlich einer Tilgung nach Absatz 1 zu regeln.
Lassen Sie die Verurteilung wegen Cannabisbesitz, Marihuanabesitz oder Haschischbesitz im Bundeszentralregister für Euro 420,00 inklusive Umsatzsteuer einschließlich aller Gebühren und Akteneinsicht löschen.
Mit Inkrafttreten des Gesetzes, womit nicht vor Ende des Jahres zu rechnen ist, werden laufende Ermittlungs- und Strafverfahren gemäß § 206b StPO durch Einstellung des Verfahrens wegen Gesetzesänderung durch Gerichte beendet werden. Bei 25 g Haschsisch, Marihuana knapp überschreitenden Mengen Cannabis werden mit Inkraftreten des Gesetzes ebenfalls gemäß §§ 153, 153 a StPO eingestellt werden.
Beschluss vom 24. Februar 2023, 2 BvR 117/20, 2 BvR 962/21
Mit heute veröffentlichten Beschlüssen hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts den Verfassungsbeschwerden eines im Jahr 1972 wegen zweifachen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilten Häftlings stattgegeben. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen fachgerichtliche Entscheidungen, mit denen die Aussetzung des Strafrestes einer seit mehr als 47 Jahren vollzogenen lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung abgelehnt wurde.
Die angegriffenen Entscheidungen der Fachgerichte verletzen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG), weil die Fortdauer der Freiheitsentziehung nicht in einer Weise begründet worden ist, die den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügt.
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer, ein wegen Mordes an einer Frau und deren Tochter rechtskräftig zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe Verurteilter, befand sich seit Juni 1970 in Untersuchungs- und sodann in Strafhaft. Nachdem er die Taten zunächst eingeräumt hatte, widerrief er in der Folgezeit sein Geständnis.
Ab dem Jahr 1991 befand sich der Beschwerdeführer im offenen Vollzug. In den folgenden Jahren wurde er jedoch mehrfach in den geschlossenen Vollzug zurückverlegt, weil bei ihm wiederholt pornografisches Material und weitere unerlaubte Gegenstände aufgefunden worden waren.
Im Jahr 1997 stellte das Landgericht Koblenz fest, dass die besondere Schwere der Schuld des Beschwerdeführers die weitere Vollstreckung der Freiheitsstrafe nicht mehr gebiete. Eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung lehnte es gleichwohl ab, da eine günstige Gefahrenprognose nicht gestellt werden könne.
Mit angegriffenem Beschluss vom 17. Mai 2019 lehnte das Landgericht Koblenz einen Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung ab. Es bestehe eine geringe Gefahr, dass der Beschwerdeführer künftig schwere Straftaten begehen werde. Er sei aufgrund seiner rigiden Verweigerungshaltung in Bezug auf die sexuelle Devianz nicht hinreichend einschätzbar. Verbleibende Zweifel hinsichtlich einer günstigen Prognose gingen zu seinen Lasten.
Mit angegriffenem Beschluss vom 9. Dezember 2019 verwarf das Oberlandesgericht Koblenz die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde als unbegründet. Zugunsten des Beschwerdeführers spreche zwar, dass er sich seit März 2017 wiederum im offenen Vollzug bewährt habe. Dem stehe aber die fehlende Aufarbeitung der Anlasstaten gegenüber. Dass die Persönlichkeitsdefizite, die auch den Anlassmorden zugrunde gelegen hätten, unbearbeitet seien, müsse sich prognostisch ungünstig auswirken. Weiterhin sei ein sozialer Empfangsraum, der ausreichende Kontrollmöglichkeiten biete, bislang nicht vorhanden.
Mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 22. Januar 2021 lehnte das Landgericht Koblenz wiederum die Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe ab. Auch die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Koblenz erneut mit Beschluss vom 29. April 2021 als unbegründet.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die zulässigen Verfassungsbeschwerden sind offensichtlich begründet. Die fachgerichtlichen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG.
1. a) Ob im Einzelfall die weitere Vollstreckung einer rechtskräftig ausgesprochenen lebenslangen Freiheitsstrafe nach § 57a Strafgesetzbuch (StGB) zur Bewährung auszusetzen ist, ist eine Frage der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts. Das Bundesverfassungsgericht prüft fachgerichtliche Entscheidungen nicht in jeder Hinsicht nach und hat insbesondere nicht seine eigene Wertung des Einzelfalls nach Art eines Rechtsmittelgerichts an die Stelle derjenigen des zuständigen Richters zu setzen. In derartigen Fällen lässt sich vielmehr eine Grundrechtsverletzung nur feststellen, wenn der zuständige Vollstreckungsrichter entweder nicht erkannt hat, dass in seine Abwägung Grundrechte einwirken, oder wenn seine Entscheidung auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung dieser Grundrechte beruht.
b) Bei der Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes einer lebenslangen Freiheitsstrafe bedarf es von Verfassungs wegen einer Gesamtwürdigung, die die von dem Verurteilten ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Grundrechtseingriffs ins Verhältnis setzt. Auf der einen Seite verlangt die im Rahmen der Aussetzungsentscheidung zu treffende Prognose die Verantwortbarkeit der Aussetzung mit Rücksicht auf unter Umständen zu erwartende Rückfalltaten. Auf der anderen Seite hat dabei der grundsätzliche Freiheitsanspruch des Verurteilten wegen der regelmäßig zurückgelegten langen Haftzeit großes Gewicht. Je höherwertige Rechtsgüter in Gefahr sind, desto geringer muss das Rückfallrisiko sein.
c) Darüber hinaus folgen aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfahrensrechtliche Anforderungen, die mit zunehmender Dauer der Freiheitsentziehung steigen. Vor allem wenn die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nicht mehr gebietet, hat sich das Vollstreckungsgericht bei einer Aussetzungsentscheidung von Verfassungs wegen um eine möglichst breite Tatsachenbasis zu bemühen und die für seine Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte näher darzulegen. Mit zunehmender Dauer einer Freiheitsentziehung verengt sich der Bewertungsrahmen des Strafvollstreckungsrichters und wächst die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.
2. Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Beschlüsse nicht. Sie verfehlen die sich aus der sehr langen Dauer der Freiheitsentziehung ergebenden Anforderungen an die Begründungstiefe der Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes der lebenslangen Freiheitsstrafe.
a) Die Fachgerichte verhalten sich bereits nicht zu dem Lebensalter des Beschwerdeführers und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten. Dabei ist davon auszugehen, dass angesichts der außerordentlichen Länge der Vollzugsdauer die Gefahr künftiger (Sexual-) Straftaten von nur geringem oder mittlerem Gewicht einer Aussetzung des Strafrestes der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung nicht mehr entgegenstehen dürfte.
Selbst wenn das im Zeitpunkt der Begehung der Anlassdelikte im Jahr 1970 zutage getretene Persönlichkeitsdefizit in Form einer sexuellen Devianz und gesteigerten sexuellen Verlangens unbearbeitet geblieben ist, kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass die sexuelle Dranghaftigkeit des Beschwerdeführers in seinem hohen Alter in einem Maße fortbesteht, dass die Wahrscheinlichkeit der Begehung vergleichbarer, gegen das Leben gerichteter (Sexual-) Straftaten als gegeben angesehen werden kann.
b) Nichts Anderes ergibt sich, soweit die Fachgerichte darauf verweisen, die besondere Dranghaftigkeit des Beschwerdeführers sei während seiner Inhaftierung immer wieder zum Vorschein gekommen, da sämtliche Regelverstöße im Zusammenhang mit seiner Sexualität gestanden hätten.
Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Besitz der aufgefundenen Gegenstände für sich genommen keinen Aufschluss über die Gefahr künftiger besonders schwerer (Sexual-) Straftaten zu geben vermag. Zudem liegen keine Hinweise vor, dass der Beschwerdeführer während der mehrjährigen Phasen des offenen Vollzugs Straftaten begangen hat. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer den seit 2017 erneut angeordneten offenen Vollzug – soweit ersichtlich – bisher beanstandungsfrei absolviert hat.
c) Nicht nachvollziehbar sind darüber hinaus die Ausführungen des Landgerichts Koblenz zur Bewertung des Umstands, dass der Beschwerdeführer zwei Langzeitausgänge ordnungsgemäß durchgeführt hat. Das Landgericht beschränkt sich auf die Feststellung, der Beschwerdeführer habe erkannt, dass eine Entlassung perspektivisch nur realisierbar sei, wenn er sich beanstandungsfrei führe. Es sei daher davon auszugehen, dass er auch künftige Langzeitausgänge beanstandungsfrei absolvieren werde. Das Landgericht misst damit der erfolgreichen Durchführung von angeordneten Lockerungsmaßnahmen keinerlei Aussagewert zu. Dies ist mit dem Grundsatz, dass Vollzugslockerungen für eine zutreffende Prognoseentscheidung eine besondere Bedeutung zukommt, nicht vereinbar.
d) Schließlich setzen sich die Fachgerichte unzureichend mit der Frage einer möglichen Reduzierung des verbliebenen Risikos der Begehung erneuter (Sexual-) Straftaten des Beschwerdeführers durch die Erteilung von Auflagen und Weisungen im Rahmen einer Aussetzung des Vollzugs der Freiheitsstrafe zur Bewährung auseinander.
Sie beschränken sich insoweit auf die Feststellung, dass ein geeigneter sozialer Empfangsraum fehle, weil der Beschwerdeführer nicht bereit sei, eine Unterbringung in einer betreuten Wohnform außerhalb des ihm bekannten sozialen Umfelds zu akzeptieren, und es an einem entsprechenden Angebot fehle.
Die Gerichte lassen dabei außer Betracht, dass der gerichtlich beauftragte Sachverständige ausgeführt hat, dass der Beschwerdeführer kein impulsiv handelnder Straftäter sei. Das Restrisiko weiterer Straftaten könne daher durch geeignete Weisungen reduziert werden. Als solche seien eine regelmäßige sozialarbeiterische Betreuung mit kontrollierenden Funktionen, die Untersagung des Besitzes von Gegenständen, die für voyeuristische Zwecke eingesetzt werden können, und eine dahingehende regelmäßige Kontrolle der Wohnung in Betracht zu ziehen.
Diesen Ausführungen kann nicht entnommen werden, dass aus Sicht des Sachverständigen die Überführung in eine betreute Wohnform die einzige Möglichkeit darstellt, um im Rahmen eines Entlassungssettings die Gefahr künftiger schwerer (Sexual-) Straftaten des Beschwerdeführers auf das unvermeidbare Mindestmaß zu reduzieren.
Vor diesem Hintergrund wäre es Sache der Fachgerichte gewesen, sich mit der Möglichkeit einer Reststrafenaussetzung unter ausreichend risikominimierenden Auflagen gesondert zu befassen. Es erscheint – nicht zuletzt auch wegen der erfolgreich absolvierten Langzeitausgänge – nicht von vornherein ausgeschlossen, dass angesichts der dem Beschwerdeführer durch den Sachverständigen attestierten fehlenden Impulsivität die Möglichkeit besteht, durch Bewährungsauflagen eine begleitende und kontrollierende Struktur zu schaffen, die die Gefahr erneuter, gegen das Leben gerichteter Sexualstraftaten auf das unvermeidbare Mindestmaß beschränkt.